Vor zwei Jahren starben meine Eltern. Ein Leben lang hatten wir ein inniges Verhältnis zueinander. In den letzten Wochen zuvor zeichnete sich ab, dass sie bald gehen würden. Doch der Tod meiner Mutter und meines Vaters – so kurz nacheinander – traf mich trotzdem wie ein Hammer. Einer, der in den ersten Wochen und noch Monate nach ihrem Tod auf mich einschlug. Doch ich schaffte es, einige Rituale zu entwickeln, die mir halfen, Abschied von meinen Eltern zu nehmen – wenn auch nur langsam.
Abschiedsrituale vor dem Tod
Diese habe ich für mich genutzt, um auf meine ganz persönliche Weise adieu zu sagen. Jeder kann und sollte sie für sich finden. Denn so unterschiedlich Menschen sind, so verschieden ist auch ihre Art zu trauern. Und das braucht einfach Zeit.
Doch die geben uns die heutige schnelllebige, technisierte, digitale Gesellschaft und ihre Strukturen manchmal nicht. Dennoch wollte ich mir die Zeit nehmen und kleine Gemeinsamkeiten mit meinen Eltern erleben. So wollte ich noch zu Lebzeiten schöne Stunden mit ihnen verbringen, um mich später an den Erinnerungen daran erfreuen zu können. Diese Beschäftigung mit dem Verabschieden half mir, wie ich im Nachhinein feststellte, beim Trauern.
Wichtig war mir dabei, dass die Rituale zu mir wie auch zu meinen Eltern passten. Dazu gehörte es Kerzen anzuzünden, was ich auch noch lange nach ihrem Tod tat, indem ich eine Kerze ans Fenster stellte und glaubte, ihre Seele könnte sie sehen. Die beiden hatten ihr Leben lang abends zum Fernsehen Kerzen wegen des heimeligen Lichts angezündet, also verlagerten meine Eltern und ich diese Momente der Erleuchtung, wie wir sie nannten, noch zu ihren Lebzeiten in unseren Alltag. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, zum Frühstücken, zum Abendessen, auf Kaffee und Kuchen, zündeten wir Kerzen an.
Auch gemeinsame Erinnerungen durchlebten wir noch einmal wenige Tage vor ihrem Tod. So konnten wir diese zusammen auffrischen und uns in tiefgründigen Gesprächen auf den kommenden Abschied vorbereiten. Ich schrieb sogar ein paar Geschichten auf, die ich noch heute lese und die mir Kraft geben in dunklen Momenten. Kurz nach ihrem Tod fiel es mir schwer, sie zu lesen, doch sie halfen mir, den Verlust dieser beiden geliebten Menschen zu verarbeiten.
Todesfall Eltern, was tun?
Diese Frage stellt sich wohl jedem Menschen, wenn es soweit ist. Doch ich wusste bereits, was ich wollte: am Todestag bei ihnen sein und die letzten Stunden, Minuten, Atemzüge an ihrer Seite wachen – einfach, weil wir unser Leben lang eine innige Beziehung zueinander gepflegt hatten.
Mein Vater hatte geholfen, meine Mutter mit dem Bestatter und mir zu waschen und anzukleiden. Genau das gleiche tat ich, als mein Vater ging. Den toten, leblosen Körper eines geliebten Menschen zu berühren, hilft Abschied zu nehmen. Denn man merkt förmlich, wie der Lebensgeist in dieser Hülle erloschen ist. Das fühlt sich seltsam, befremdlich, schmerzlich an, doch je länger man sich mit dieser leblosen Hülle beschäftigt, begreift man ganz langsam, dass in ihr kein Leben mehr steckt. Dieses physische Ende markierte für mich gleichzeitig den psychischen Anfang eines neuen, wenn auch schmerzlichen, Lebensabschnittes ohne meine Eltern.
Ein Ritual, was ich bei beiden gepflegt hatte, war das Öffnen der Fenster nach dem letzten Atemzug. So konnte ich gewissermaßen deren Seelen gehen lassen. Manch einer verhüllt auch Spiegel, damit laut Aberglaube kein weiterer Todesfall eintritt, oder hält die Uhren an, um dem Toten die letzte Ruhe zu gewähren. Doch das Leben muss weitergehen. Ich schnitt beiden lediglich eine winzige Haarsträhne ab, um ein Stück von ihnen weiterhin bei mir zu haben. Immerhin ist sie ein Teil von ihnen, aber nicht vergänglich. Besonders in den letzten Wochen hatte ich meiner Mutter regelmäßig die Haare geföhnt. Sie hatte Zeit ihres Lebens Wert auf ihr Äußeres gelegt. Ebenso mein Vater, ihm hatte ich bis zuletzt die Haare geschnitten. Somit war die Strähne eine letzte verbliebene Verbindung zu ihnen.
Abschied auf immer von den Eltern
Diese Locken bewahre ich seit dem Tod der beiden auf. Für die Beerdigung war es mir wichtig, beide jeweils aufzubahren, damit sich jeder, der wollte, von meiner Mutter und meinem Vater verabschieden konnte. So wie ich es beim Waschen und Ankleiden getan hatte. Dieses Abschiednehmen ist – genauso wie die Erdbestattung – recht kostspielig, doch das war es mir wert.
Diese selbst geschaffenen Rituale waren es am Ende, die mir halfen, Abschied zu nehmen. Durch sie konnte ich trauern, womit sich die Beziehung zu meinen Eltern veränderte.
Neue Kraft schöpfen
Doch meine Art zu trauern, veränderte sich im Laufe der Zeit, so wie sich auch der Schmerz veränderte. Ich musste und wollte neue Kraft schöpfen für mein weiteres Leben und in Richtung Zukunft blicken, ohne dabei die Vergangenheit auszublenden.
Hierbei half mir, die Kleidung meiner Eltern aus den Kleiderschränken zu räumen und noch ein letztes Mal in ihrer Welt zu sein, bevor ich sie an Kleiderkammern und Bedürftige verschenkte. Das war auch ein Wunsch meiner Eltern. Ihre Wohnung habe ich verkauft und mich damit von der letzten physischen Verbindung zu ihnen gelöst – so zumindest fühlte es sich bei der Schlüsselübergabe so an. Ich habe gemerkt, dass es hilft, sich von physischen Erinnerungsstücken zu trennen. Außer einem. Die Locken habe ich noch, aber nicht mehr täglich bei mir. In Momenten, in denen mich die Trauer überkommt, geben sie mir Kraft und lassen meine Eltern damit zur genau richtigen Zeit für einen kurzen Moment wieder aufleben – wenn auch nur gedanklich. Doch genau das hilft mir dann. Denn was am Ende bleibt, sind wunderbare, lebendige Erinnerungen an die Zeit mit meinen Eltern.
Artikel von: Emmora