Die Pauluskirche in der Bochumer Innenstadt wird Schauplatz einer künstlerischen Intervention. Vom 9. September bis 15. Oktober wird in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirchengemeinde das "Polyptychon der Lebenden und Toten" durch den Künstler Gerhard Rossmann realisiert. Das Polyptychon stellt in Form von Icons die 100 Milliarden Toten und 8 Milliarden Lebenden aus Vergangenheit und Gegenwart der Menschheit dar.
Die Ahorn Gruppe hat das Projekt gemeinsam mit ihrer lokalen Marke Gabriel Bestattungen mit einer Spende unterstützt.
Im Gespräch mit dem Journalisten Thomas Schmidt verrät Gerhard Rossmann mehr über sein Polyptychon.
Was müssen wir uns unter einem Polyptychon der Lebenden und der Toten vorstellen?
„Mein Polyptychon besteht aus mehreren Zutaten. Im Zentrum stehen zehn Wandtafeln, jeweils zwei Quadratmeter groß. Sie zeigen insgesamt 216.000 Icons. Jedes Icon steht für 500.000 Menschen, lebende, tote, Frauen und Männer. Ich stelle so über 100 Milliarden Tote und 8 Milliarden Lebende dar. Rot abgesetzt sind die Icons, die für Tote durch die zahlreichen Kriege der Weltgeschichte stehen.“
Über 100 Milliarden Tote - woher stammt diese Zahl?
„Diese Zahl hat rechnerisch der 2010 verstorbene, vielfach ausgezeichnete kanadische Demograf Nathan Keyfitz ermittelt. Er hat eine Formel aufgestellt, die alle wichtigen Parameter, wie die Geburtenrate der Menschen, die Lebenserwartung und die Dauer der fortpflanzungsaktiven Zeit einer Generation einbezieht.“
Wie viele Menschen sind in der Weltgeschichte Kriegen zum Opfer gefallen?
„Die 30 größten Kriege haben 650 bis 400 Millionen Menschen das Leben gekostet. Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen. Beim Zweiten Weltkrieg allein ist die Schwankungsbreite 40 bis 85 Millionen Tote. Bei den oben genannten Zahlen sind nicht die Opfer berücksichtigt, die bei frühen, einfachen, landwirtschaftlichen Gesellschaften ums Leben kamen. Anthropologische und archäologische Untersuchungen gehen davon aus, dass in Urgesellschaften 15% aller Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben sind, bei den Männern waren es sogar 25%.
Die Wandtafeln sind nicht die einzigen Elemente des Polyptychons. Was erwartet uns noch?
„Die Tafeln an den Wänden erfahren eine Fortsetzung auf dem Kirchenboden. Die Besucher und Besucherinnen der Pauluskirche gehen über einen Icon-Teppich zum Gottesdienst, die Bestuhlung steht ebenfalls auf diesen Icons. Wenn man es dramatisieren will, gehen und sitzen die Lebenden der Gegenwart über Leichen der Vergangenheit.“
In der Kirche über Leichen gehen, das erinnert an die Praxis im Mittelalter, die Toten auch unter dem Kirchenboden zu bestatten und um die Kirche herum zu beerdigen.
„Den Dreiklang von Tod, Boden und Erde hole ich mit einem Erdhügel in die Kirche. Im und auf dem Hügel befinden sich archäologische Funde von Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs. Ein Fund, eine kaum noch zu erkennende Gasmaske, stammt zum Beispiel vom Hamburger Elbufer und von den mit Kriegsschutt aufgeschütteten Elbdämmen.“
Kommen wir auf die Icons zurück. Wie muss man sich so ein einzelnes Zeichen vorstellen?
„Sie sehen einzeln eigentlich sehr unspektakulär aus, sind ein bis zehn Zentimeter hoch und einen halben Zentimeter bis zu fünf Zentimeter breit und kombinieren das Piktogramm von Mann respektive Frau mit dem eines Sarges. Bei der Darstellung der Lebenden fehlt einfach der Sarg. Beeindruckend ist die Gesamtzahl der Icons auf einer größeren Fläche mit ihren unterschiedlichen Schwarz- beziehungsweise Grautönen und die Gruppen roter Icons, die je nach Dauer und Opferzahl eines Krieges unterschiedliche geometrische Figuren bilden.“
Bei den Milliarden- und Millionenzahlen kommt man schnell an die Grenze unseres Vorstellungsvermögens.
„Um die Riesenzahl von über 100 Milliarden Menschen fassbar zu machen, habe ich noch einen anderen Maßstab gewählt. In einem Glaskubus befinden sich genauso viele feinste Sandkörner wie die Gesamtzahl aller Toten der Weltgeschichte. Und da die Zahlen an Geburten und Todesfällen nicht statisch sind und sie sekündlich steigen, werden die aktuellen Werte während der fünfwöchigen Dauer der Intervention laufend an die Kirchendecke projiziert.“
Das Polyptychon der Lebenden und der Toten wird in der Evangelischen Pauluskirche in der Bochumer Innenstadt realisiert. Wie kam die Zusammenarbeit zustande?
„Die Pauluskirche ist ein schlichter Sakralbau aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche weitgehend zerstört und Ende der 1940er- bis Anfang der 1950er -Jahre im alten Stil wieder aufgebaut. Aktuell stand für die Kirche eine Renovierung und für die Gemeinde eine Neuorientierung bei den Nutzungsmöglichkeiten an. So stießen meine Anfrage und mein Konzept für das Polyptychon bei Pfarrer Constantin Decker auf offene Ohren. Wichtig war für die Gemeinde nur, dass während der künstlerischen Intervention die Kirche uneingeschränkt für Gottesdienste, Spontanbesuche genutzt werden kann.“
Während der fünfwöchigen Dauer der Intervention sind darüber hinaus Veranstaltungen geplant.
„Neben der Eröffnung am 8. September gibt es in der Pauluskirche noch vier weitere Veranstaltungen. Besonders interessant dürfte das Theaterstück „Singvögel und Raben waren auch nicht mehr da“ vom ArtENSEMBLE, Bochum nach dem gleichnamigen Buch von Shigemi Ideguchi sein. Der Japaner überlebte 500 Meter von der Abwurfstelle entfernt die Atombombe von Hiroshima. Seine Aufzeichnungen erschienen 1989 in Japan und erst 2015 auf Deutsch. Am 13. September stehen zwei Antikriegsbücher im Fokus einer Lesung mit den Schauspielern Linus Ebner und Helge Salnikau. Im Zentrum dabei Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ über den Ersten Weltkrieg und Dieter Nolls Roman „Die Abenteuer des Werner Holt“ über den Zweiten Weltkrieg. Während Remarque mit seinem dreimal verfilmten Buch weltweit Anerkennung erfuhr, beschränkte sich Nolls Erfolg weitgehend auf die DDR. Auch sein Buch bildete die Grundlage für eine Verfilmung 1965. Über das gesamte Programm informiert die Website, über die auch Tickets für die Veranstaltungen gekauft werden können.“
Alle Ausstellungsdaten im Überlick
08.09.2023 19 Uhr
Vernissage
13.09.2023 19 Uhr
Eine vergleichende Lesung aus den Antikriegsbüchern „Im Westen Nichts Neues“ Remarque und „Die Abenteuer des Werner Holt“ von Noll mit den Schauspielern Linus Ebner (u.a. Schauspiel Bochum und Dortmund) und Helge Salnikau (u.a. Prinz Regent Theater, Bochum)
17.09.2023 19 Uhr
Das Theaterstück „Singvögel und Raben waren auch nicht mehr da“ vom ArtENSEMBLE, Bochum nach dem gleichnamigen Buch von Shigemi Ideguchi
24.09.2023 19 Uhr
Konzert mit der ukrainischen Akkordeonistin und Folkwang-Absolventin Tetiana Muchychka „Spirit of the Epoch“
29.09.2023 19 Uhr
Vortrag von Dr. Maximilian Schell (Ruhr-Uni) mit anschließender Diskussion „Frieden schaffen mit und ohne Waffen – Die Friedensethik der Evangelischen Kirche vor und nach der Zeitenwende“
„Polyptychon der Lebenden und der Toten“ – eine künstlerische Intervention: 09.09.2023 bis 15.10.2023, täglich 10 bis 18 Uhr, Eröffnung 08.09.2023 19 Uhr, Evangelische Pauluskirche, Grabenstraße, 44787 Bochum – Innenstadt, www.polyptychon.de